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Rhythmus des Lebens

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Ich erinnere mich an die Zeit, als Jana und ich uns kennenlernten. Wir waren jung, voller Träume und verbrachten Nächte damit, über unsere Zukunft zu sprechen. Doch irgendwo auf dem Weg haben wir uns verloren. Ich schäle mich aus dem Bett. Jana sitzt bereits in der Küche vor einer Tasse Tee, vertieft in ihr Smartphone. „Guten Morgen“, sage ich zaghaft. Sie blickt kurz auf, murmelt etwas Unverständliches und widmet sich wieder dem Bildschirm. Das Schweigen zwischen uns ist lauter als jedes Gespräch.

Der Tag ist wie jeder andere und der gemeinsame Abend mit Thomas und seiner neuen Freundin hat eine Leere in mir hinterlassen, schwer wie Blei. Ihre oberflächlichen Gespräche über teure Urlaube und exklusive Restaurants prallten an mir ab wie Regentropfen an kaltem Glas. Ich fühlte mich wie ein Beobachter meines eigenen Lebens, als würde ich hinter unsichtbaren Mauern stehen und zusehen, wie die Welt an mir vorbeizieht.

Die Nacht umhüllt Böblingen mit einem Schleier aus Nebel und Stille. Der Dunst kriecht durch die Gassen, dämpft die Geräusche und verleiht der Stadt eine geheimnisvolle Aura. Ich stehe am Fenster unseres Wohnzimmers und blicke hinaus auf die verlassenen Straßen. Die Lichter der Laternen werfen schwache Schatten auf das nasse Pflaster. Irgendwo in der Ferne heult ein Hund, sein Klagen verhallt in der Dunkelheit.

Manchmal frage ich mich, ob es meine Schuld ist, dass wir uns so entfremdet haben. Hätte ich mehr machen sollen? Aber wie kämpft man um etwas, das sich schon längst aufgelöst hat?

Ich ziehe meine Jacke über und entscheide mich, noch einen Spaziergang zu machen. In der Hoffnung, dass die frische Nachtluft den Nebel in meinem Inneren vertreibt. Die Straßen sind menschenleer, nur mein Atem bildet kleine Wolken in der Kälte, die meine Wangen leicht taub werden lässt. Meine Schritte hallen auf dem nassen Asphalt wider, während ich zum Schlossberg hinaufgehe, von wo aus man einen weiten Blick über die Stadt hat.

Oben angekommen, setze ich mich auf eine kalte Steinbank und lasse den Blick schweifen. Unter mir breitet sich ein Teppich aus Lichtern aus, die wie Sterne in der Ferne glitzern und die Konturen der Stadt zeichnen. Für einen Moment fühle ich mich eins mit der Welt, klein und doch verbunden. Doch dann kehren die Fragen zurück. Was ist meine Rolle in diesem unendlichen Geflecht aus Existenzen? Wie füge ich mich ein in das große Ganze, von dem Hegel sprach?

Ich denke an mein Buch „Geheime Zukunft“ und die Fortsetzung „Codex Luminis“, an all die Worte, die ich niedergeschrieben habe, um die Komplexität des Lebens zu erfassen. Doch nun wirken sie hohl, wie Echos in einem leeren Raum, unfähig, die Tiefe meines Unbehagens zu berühren.

Plötzlich setzt sich jemand neben mich. Ich blicke auf und sehe einen älteren Mann mit freundlichen Augen und einem sanften Lächeln. Sein Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, doch seine Augen strahlen eine jugendliche Neugier aus. Er nickt mir zu. „Schöne Aussicht, nicht wahr?“

„Ja“, antworte ich knapp, unsicher, ob mir nach Gesellschaft zumute ist. Doch seine Präsenz hat etwas Beruhigendes.

Er scheint meine Zurückhaltung zu spüren. Nach einer Weile sagt er: „Ich komme oft hierher, wenn ich nachdenken muss. Von hier oben wirken die Höhen und Tiefen des Lebens weniger bedeutend.“

Irgendetwas in seiner Stimme beruhigt mich. „Ich frage mich, ob das Leben mehr ist als eine Aneinanderreihung von Momenten, die wir nicht verstehen“, sage ich, ohne genau zu wissen, warum ich das mit einem Fremden teile.

Er lächelt leicht. „Vielleicht ist es genau das Unverständliche, das das Leben lebenswert macht. Die Suche nach Bedeutung gibt uns einen Zweck.“

Wir sprechen weiter, tauschen Gedanken aus über Philosophie, das Menschsein und die unergründlichen Wege, die wir gehen. Es ist ein Gespräch, das mich mehr berührt, als ich erwartet hätte.

Als er sich schließlich verabschiedet, fühle ich eine seltsame Art von Frieden in mir. Ich bleibe noch eine Weile sitzen, lausche dem Wind, der durch die Bäume streicht, und beobachte, wie sich der Nebel langsam lichtet.

Auf dem Rückweg durch die stillen Straßen von Böblingen bemerke ich Details, die mir zuvor entgangen sind. Die Muster der Kopfsteinpflaster, das sanfte Licht in den Fenstern der Häuser, das entfernte Lachen aus einer Kneipe. Es ist, als hätte jemand einen Schleier von meinen Augen genommen.

Zu Hause angekommen, ist die Wohnung still und dunkel. Jana hat Nachtschicht beim Kriminaldauerdienst in Leonberg, wo sie als Kriminaloberkommissarin arbeitet. Ihre Dienste überschneiden sich oft mit meinen Abenden, und selbst wenn wir beide zu Hause sind, fühlt es sich an, als würden wir aneinander vorbeileben.

Ich lasse mich auf das Sofa fallen und starre an die Decke. An der Wand hängen Fotos von uns – lachend am Strand, Arm in Arm auf einer Hochzeit, beim Wandern in den Bergen. Erinnerungen an bessere Zeiten, die sich jetzt so fern anfühlen.

In den letzten Monaten ist eine Distanz zwischen uns gewachsen, die ich nicht genau benennen kann. Unsere Gespräche beschränken sich auf Alltäglichkeiten: Wer geht einkaufen? Hast du die Miete überwiesen? Es fehlt die Tiefe, das Vertraute.

Am nächsten Morgen sitzt Jana am Küchentisch, eine Tasse Kaffee vor sich, den Blick auf ihr Handy gerichtet.

„Guten Morgen“, sage ich vorsichtig.

Sie hebt den Kopf und schenkt mir ein flüchtiges Lächeln. „Morgen. Ich muss gleich los. Heute wird ein langer Tag.“

„Schon wieder Doppelschicht?“

Sie nickt. „Personalmangel. Du weißt ja, wie es ist.“

Ein unangenehmes Schweigen breitet sich aus. Ich räuspere mich. „Vielleicht sollten wir mal wieder etwas zusammen unternehmen. Wie früher.“

Sie seufzt leise. „Vincent, ich bin einfach erschöpft. Vielleicht ein andermal, ja?“

„Natürlich“, antworte ich, doch in mir breitet sich Enttäuschung aus.

Ich setze Wasser für Tee auf und schlage ein leeres Notizbuch auf. Die leeren Seiten scheinen mich einzuladen, meine Gedanken freizulassen. Die Feder gleitet über das Papier, als würden die Worte direkt aus meinem Inneren strömen. Sätze formen sich, Gedanken finden ihren Weg aufs Papier, ohne dass ich sie zwingen muss.

Ich schreibe über den Mann auf dem Schlossberg, über unsere tiefgründige Unterhaltung, über die Erkenntnis, dass das Leben vielleicht nicht verstanden, sondern einfach gelebt werden will. Dass es in Ordnung ist, nicht alle Antworten zu haben. Während ich schreibe, spüre ich, wie sich ein Knoten in mir löst, als würde ich Ballast abwerfen.

An einem Freitagabend beschließe ich, Jana mit einem selbstgekochten Essen zu überraschen. Ich decke den Tisch, zünde Kerzen an und warte gespannt auf ihre Rückkehr.

Als sie schließlich die Tür öffnet, wirkt sie überrascht. „Was ist das?“, fragt sie mit einem Anflug von Misstrauen.

„Ich dachte, wir könnten mal wieder einen Abend zusammen verbringen. Ohne Stress.“

Sie zieht ihre Jacke aus und setzt sich an den Tisch. „Das ist nett von dir, aber ich bin wirklich müde, Vincent.“

Während des Essens herrscht angespannte Stille. Schließlich breche ich das Schweigen. „Jana, ich habe das Gefühl, dass etwas nicht stimmt zwischen uns.“

Sie legt die Gabel zur Seite. „Was erwartest du von mir? Mein Job frisst mich auf, und ich habe einfach keine Energie mehr.“

„Es geht nicht nur um deinen Job“, entgegne ich. „Wir entfernen uns voneinander, und ich weiß nicht, wie ich das ändern kann.“

Sie schaut mich an, ihre Augen wirken leer. „Vielleicht gibt es nichts mehr zu ändern.“

Die Worte treffen mich härter, als ich erwartet hatte. „Was meinst du damit?“

„Vielleicht haben wir uns einfach auseinandergelebt“, sagt sie leise. „Manchmal frage ich mich, ob wir noch die gleichen Menschen sind wie damals.“

In den folgenden Tagen lässt mich unser Gespräch nicht los. Ich merke, dass Jana recht hat. Wir klammern uns an eine Beziehung, die längst nur noch aus Gewohnheit besteht.

Eines Abends setze ich mich zu ihr ins Wohnzimmer. „Jana, wir müssen reden.“

Sie legt das Buch beiseite, das sie liest. „Ich höre.“

„Ich denke darüber nach, eine Weile wegzugehen. Ein Jobangebot in Spanien. Ich glaube, es wäre gut für mich.“

Sie nickt langsam. „Vielleicht ist das genau das, was du brauchst.“

„Und was ist mit uns?“, frage ich vorsichtig.

Sie lächelt traurig. „Ich denke, dass eine Veränderung uns Beiden gut tun könnte. Vielleicht ist es besser so.“

Ein schwerer Kloß bildet sich in meinem Hals. „Ich wollte nie, dass wir uns in eine solche Richtung entwickeln.“

„Ich auch nicht“, flüstert sie. „Aber manchmal ist Loslassen der einzige Weg.“

Der Herbst mag mich in seinem Grau gefangen gehalten haben, aber jetzt sehe ich auch die anderen Farben. Die tiefen Rot- und Goldtöne der Blätter, das klare Blau des Himmels am Tag, das warme Gelb der Straßenlaternen in der Nacht.

Vielleicht ist es an der Zeit, den Fokus zu verändern. Nicht mehr auf das zu schauen, was fehlt, sondern auf das, was da ist. Die kleinen Momente der Verbindung, die flüchtigen Begegnungen, die uns daran erinnern, dass wir nicht allein sind.

Ich lege den Stift zur Seite und nehme einen Schluck Tee. Die Wärme breitet sich in mir aus, und ich spüre eine leise Zuversicht. Vielleicht ist der Sinn des Lebens nicht in großen Erkenntnissen zu finden, sondern in den einfachen Dingen. Im Atmen, im Fühlen, im Sein.

Ich blicke erneut aus dem Fenster. Ein leichter Wind bewegt die Zweige der Bäume, und ein paar letzte Blätter lösen sich und tanzen im Licht der Laternen zu Boden. Ein Lächeln umspielt meine Lippen. Der Rhythmus des Lebens setzt sich fort.

Am nächsten Tag…

Ich setze mich an den Schreibtisch und öffne mein Notizbuch. Die leeren Seiten scheinen mich herauszufordern, als wollten sie sagen: „Worauf wartest du noch?“ Seit Wochen trage ich diesen Plan in mir, unausgesprochen, ungeformt, aber doch präsent. Ein neuer Job, ein neues Leben, ein Abschied von all dem Bekannten. Die Vorstellung ist beängstigend und befreiend zugleich.

Thomas’ Besuch mit seiner Neuen hat mir vor Augen geführt, wie sehr ich mich in einem Netz aus Erwartungen und Routinen verfangen habe. Seine Freundin, die oberflächliche Gespräche und glänzende Fassaden bevorzugt, spiegelte mir ein Leben wider, das ich nicht führen möchte. Und dann ist da noch Jana, eine Freundin. Oder besser gesagt, die Frau, mit dem ich mein Leben teile, ohne wirklich verbunden zu sein. Unsere Beziehung ist längst zu einer Gewohnheit geworden, ein bequemes Arrangement ohne Tiefe.

Ich stehe auf und gehe zum Bücherregal. Mein Blick streift über die Buchrücken, bleibt bei Hegels „Phänomenologie des Geistes“ hängen. Die Dialektik von Herr und Knecht, das Bewusstsein, das sich nur über den Anderen zu sich selbst findet. Habe ich mich in dieser Beziehung selbst verloren? Bin ich nur noch ein Spiegelbild der Erwartungen anderer?

Die Entscheidung reift in mir, und doch zögere ich. Was hält mich noch hier? Die Sicherheit? Die Angst vor dem Unbekannten? Ich erinnere mich an das Gespräch mit dem alten Mann auf dem Schlossberg. Seine Worte klingen nach: „Vielleicht ist es genau das Unverständliche, das das Leben lebenswert macht.“

Der Wind frischt auf, und ich ziehe die Vorhänge zu. Die Uhr tickt leise im Hintergrund, jeder Sekundenzeiger ein weiterer Schritt in Richtung einer Zukunft, die ich noch nicht ganz greifen kann. Mein Blick fällt auf den Koffer in der Ecke des Zimmers, halb gepackt, bereit für… ja, wofür eigentlich?

Ich greife zum Telefon und wähle Janas Nummer. Mein Herz schlägt schneller, meine Finger zittern leicht. Ein Teil von mir hofft, dass sie nicht abhebt, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll. Als das Freizeichen ertönt, überkommt mich die Panik, und ich lege auf. Noch nicht. Noch nicht jetzt.

Stattdessen schreibe ich ihr eine Nachricht: „Wir müssen reden.“ Die Worte erscheinen kalt und unpersönlich, aber ich finde keine besseren. Sie sind genug, um den Stein ins Rollen zu bringen.

Am Abend kommt es dann zu dem schweren Gespräch. „Ich habe das Gefühl, dass wir nur noch Mitbewohner oder eine Art Bekannte sind“, sage ich leise. Jana nickt langsam. „Ich spüre das auch. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns eingestehen, dass es nicht mehr funktioniert.“ Tränen stehen in ihren Augen, und ich kämpfe mit meinen eigenen Gefühlen.

Der nächste Morgen bricht an, und mit ihm ein leichter Nieselregen. Jana war schon gegangen. Sie hat wohl Frühdienst und hatte sich lautlos auf den Weg gemacht. Ich packe den restlichen Inhalt meines Koffers: ein paar Kleider, mein Notizbuch, die notwendigsten Dinge. Mein Flug geht in wenigen Stunden. Ein One-Way-Ticket nach Alicante. Die Stadt des Lichtes, fernab von allem Vertrauten. Dort wartet ein Job in einem Forschungsprojekt über nachhaltige Systeme – eine Chance, die Welt ein Stück besser zu machen und mich selbst neu zu entdecken.

Ich lasse die Wohnungsschlüssel auf dem Küchentisch liegen, daneben einen Brief für Jana. Darin erkläre ich alles, oder zumindest so viel, wie Worte ausdrücken können. Dass ich gehen muss, um zu finden, was ich suche. Dass es nicht ihre Schuld ist, aber ich nicht länger in einem Leben verweilen kann, das sich nicht wie mein eigenes anfühlt.

Plötzlich steht Jana in der Tür und hilft mir ohne etwas zu sagen, die letzten Kisten zum Auto zu tragen. Wir umarmen uns zum Abschied, und für einen Moment spüre ich die Vertrautheit vergangener Zeiten.

„Pass auf dich auf, Vincent“, sagt sie.

„Du auch. Ich hoffe, du findest, was dich glücklich macht.“

Sie lächelt leicht. „Das wünsche ich dir auch.“

Auf dem Weg zum Flughafen fühle ich eine Mischung aus Trauer und Erleichterung. Die Straßen von Böblingen ziehen an mir vorbei, und ich weiß, dass ein Kapitel meines Lebens endet, während ein neues beginnt. Ich denke an die Menschen, die ich zurücklasse, an die Orte, die mir einst wichtig waren. Aber ich denke auch an die ungewisse neue Zukunft, die vor mir liegen.

Am Gate sitzend, beobachte ich die anderen Reisenden. Jeder von ihnen trägt seine eigene Geschichte, seine eigenen Hoffnungen und Träume. Ich frage mich, ob sie auch vor Veränderungen stehen, ob sie auch den Mut aufbringen mussten, einen Schritt ins Ungewisse zu wagen.

Als das Boarding beginnt, atme ich tief ein. Dies ist der Moment der Entscheidung. Ich trete durch die Tür zum Flugzeug und lasse das Alte hinter mir.

Im Flugzeug schaue ich aus dem Fenster. Die Wolken unter uns bilden eine endlose weiße Landschaft, und die Sonne bricht durch in einem Meer aus Licht. Ein Symbol für einen Neuanfang? Vielleicht.

Ich schließe die Augen und denke an mein Buch „Geheime Zukunft“. Vielleicht ist die Zukunft nicht geheim, sondern wartet nur darauf, dass ich den Mut habe, sie zu gestalten. Vielleicht ist jeder von uns der Architekt seines eigenen Schicksals oder die Hauptrolle in seinem Leben und nicht irgendeine Nebenrolle im Film anderer.

Als das Flugzeug in Alicante landet, fühle ich eine ungewohnte Leichtigkeit, fast als wäre eine Last von meinen Schultern gefallen. Die warme Luft umhüllt mich, als ich das Terminal verlasse, und die Sonne strahlt vom tiefblauen Himmel herab. In der Ferne höre ich das sanfte Rauschen des Meeres. Vor mir liegt ein Land voller Naturwunder und ungeschriebener Geschichten.

Eine Welle der Euphorie überkommt mich, als würde ich zum ersten Mal seit langem wirklich frei atmen können. Ich lächle aus tiefstem Herzen. Der Rhythmus des Lebens hat eine neue Melodie angenommen, und ich bin bereit, meinen eigenen Tanz dazu zu finden.

Alicante - Die Stadt des Lichts


Die warme Brise des Mittelmeers streicht sanft über mein Gesicht, als ich auf dem Balkon meiner kleinen Wohnung in Alicante stehe. Die Sonne versinkt langsam am Horizont und taucht den Himmel in ein tiefes Orange. Unten in den Straßen pulsiert das Leben, doch hier oben fühle ich mich wie in einer eigenen Welt.

Seit einigen Wochen lebe ich nun hier, habe meinen neuen Job begonnen und mich in das fremde Umfeld eingefügt. Doch trotz all der Veränderungen bleibt ein Gefühl der Unvollständigkeit. Etwas, das ich nicht benennen kann, zieht sich durch meine Tage.

Eines Nachmittags sitze ich in einem kleinen Café am Hafen, vertieft in mein Notizbuch. Die Geräusche der Stadt verschwimmen, während ich schreibe. Plötzlich höre ich eine Stimme: „Entschuldige, ist dieser Platz noch frei?“ Ich blicke auf und sehe eine Frau mit leuchtenden Augen und einem warmen Lächeln.

„Natürlich“, antworte ich und schiebe meine Sachen zur Seite. Sie setzt sich mit einem leichten Seufzen auf den Stuhl gegenüber. Ihr Duft nach Zitrus und einem Hauch von Vanille erreicht mich und weckt Erinnerungen an vergangene Sommer. Sie lächelt mich an, und ich bemerke ein kleines Grübchen auf ihrer linken Wange. Irgendetwas an ihr lässt mein Herz schneller schlagen. Sie setzt sich, bestellt einen Kaffee und holt ein Skizzenbuch hervor. Neugierig beobachte ich, wie sie beginnt, die Umgebung zu zeichnen.

„Du bist nicht von hier, oder?“ fragt sie nach einer Weile ohne aufzusehen.

„Nein, erst seit kurzem in Alicante“, erwidere ich. „Und du?“

„Gebürtige Spanierin, aber viel herumgereist“, sagt sie und schaut mich an. „Ich heiße Elena.“

„Vincent“, stelle ich mich vor. Ein angenehmes Schweigen entsteht, während wir beide unseren Gedanken nachhängen.

In den folgenden Tagen treffen wir uns zufällig immer wieder: im Buchladen, am Strand, auf dem Markt. Jedes Mal tauschen wir ein paar Worte aus, lernen einander ein wenig besser kennen. Es fühlt sich an, als würde das Schicksal uns zusammenführen.

Eines Abends lädt sie mich zu einer Ausstellung ein. Ihre eigenen Werke werden dort gezeigt. Ich bin beeindruckt von der Tiefe und Emotion in ihren Gemälden. „Deine Kunst ist wunderschön“, sage ich ehrlich.

„Danke“, antwortet sie leise. „Sie spiegelt meine Seele wider.“

Unsere Blicke treffen sich, und für einen Moment scheint die Zeit stillzustehen. Ich spüre ein Kribbeln, doch ich schaue schnell weg, unsicher über diese neuen Gefühle.

Die Wochen vergehen, und unsere Treffen werden häufiger. Wir teilen Geschichten, Träume und Ängste. Doch trotz der Nähe bleibt etwas unausgesprochen zwischen uns. Ich frage mich oft, ob sie dasselbe empfindet wie ich. Die Angst vor Fehldeutungen hält mich jedoch davon ab, den ersten Schritt zu wagen.

An einem Abend schlendern wir über das Stadtfest. Lichterketten spannen sich über die Gassen, Musik erfüllt die Luft. Elena zieht mich zu einer Tanzfläche, und obwohl ich mich zunächst unsicher fühle, lasse ich mich von ihrer Begeisterung mitreißen. Wir tanzen unter freiem Himmel, umgeben von fremden Gesichtern, doch in diesem Moment existieren nur wir beide.

An einem stürmischen Tag sitzen wir in meiner Wohnung, der Regen trommelt monoton gegen die Fenster, als wolle er hereingelassen werden. Wir trinken kühle Cocktails, deren Eiswürfel leise klirren, und sprechen über das Leben. „Manchmal frage ich mich, ob ich hier wirklich richtig bin“, gestehe ich und blicke in mein Glas. „Ob ich nicht einfach vor etwas weglaufe.“

Elena nimmt einen Schluck von ihrem Drink und schaut mich über den Rand ihres Glases hinweg an. „Was meinst du damit?“

Ein Seufzen entweicht mir. „Vor mir selbst vielleicht“, antworte ich mit einem bitteren Lächeln. „Vor den Erwartungen anderer. Manchmal fühle ich mich verloren, als hätte ich keinen festen Boden unter den Füßen.“

Sie legt ihre Hand auf meine. „Ich kenne dieses Gefühl. Aber ich glaube, wir sind hier, um uns selbst zu finden.“

„Weißt du“, sagt Elena leise, während wir in Richtung Pier schauen, „ich habe immer davon geträumt, ein eigenes Atelier am Meer zu haben.“ Ich schaue sie an. „Was hält dich davon ab?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Vielleicht auch die Angst, zu scheitern.“ Ich nicke verständnisvoll. „Ich kenne dieses Gefühl. Aber manchmal muss man springen, um fliegen zu können.“

Mein Herz schlägt schneller bei ihrer Berührung. „Elena…“, beginne ich, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken.

„Ja?“ Ihre Augen suchen meinen Blick, hoffnungsvoll und zugleich unsicher.

„Ich bin froh, dass wir uns begegnet sind“, sage ich schließlich. Eine Ausweichantwort, die nicht das ausdrückt, was ich wirklich fühle.

Sie lächelt sanft. „Ich auch.“

Die Spannung zwischen uns ist beinahe greifbar, doch keiner von uns wagt es, den nächsten Schritt zu tun. Die Angst vor dem Unbekannten, vor dem möglichen Schmerz, hält uns zurück.

Als ich am nächsten Tag an meinem Schreibtisch sitze und an meinem Projekt arbeite, klopft es leise an der Tür. Elena steht draußen, hält zwei Tassen dampfenden Kaffees in den Händen. „Ich dachte, du könntest eine Pause gebrauchen“, sagt sie mit einem sanften Lächeln. Dankbar nehme ich eine Tasse. „Du liest Gedanken“, antworte ich schmunzelnd.

Am nächsten Abend schlage ich vor, den Sonnenuntergang vom Leuchtturm aus zu beobachten. Der Aufstieg ist steil, aber die Aussicht lohnt sich. Wir stehen nebeneinander, schweigend, während die Sonne langsam im Meer versinkt.

„Es ist atemberaubend“, flüstert sie.

„Ja“, stimme ich zu, doch mein Blick ruht auf ihr, nicht auf dem Horizont.

Am Wochenende darauf schlägt Elena vor, die nahegelegenen Cuevas de Canelobre zu besuchen – beeindruckende Tropfsteinhöhlen in der Nähe von Alicante. Wir fahren mit ihrem alten Jeep die kurvenreichen Straßen hinauf, lachen über Anekdoten und singen zu den Liedern im Radio.

In der Höhle selbst staunen wir über die majestätischen Formationen, die über Jahrtausende entstanden sind. „Es ist, als wären wir in einer anderen Welt“, flüstere ich.

Elena nickt und schaut mich mit leuchtenden Augen an. „Manchmal muss man tief in die Erde gehen, um die Schönheit zu finden, die sich vor unseren Augen verbirgt.“

Ihre Worte treffen etwas in mir. „Vielleicht gilt das auch für uns Menschen“, antworte ich nachdenklich.

Sie lächelt. „Ja, vielleicht sollte man mutiger sein und sich trauen, tiefer zu schauen.“

Mein Herz fühlte sich an, als würde dort etwas Warmes ausströmen. Ich starre sie an und möchte sie am liebsten küssen.
Sie bemerkt, was in mir vorgeht, zumindest bilde ich mir das ein, denn sie errötet leicht. „Vincent, ich muss dir etwas sagen.“

Mein Herz klopft heftig. „Was denn?“

Elena wirkt etwas abwesend. „Ist alles in Ordnung?“, frage ich vorsichtig. Sie zögert. „Ich habe Angst, dass du genauso plötzlich verschwindest, wie du in mein Leben getreten bist.“ Ich spüre einen Stich in meinem Herzen. „Ich bin hier, Elena. Und ich möchte bleiben.“

„Seit wir uns kennen, fühle ich etwas, das ich nicht ganz verstehe“, fährt sie zögernd fort. „Etwas, das mich verwirrt, aber auch glücklich macht.“

Ich atme tief ein. „Mir geht es genauso“, gebe ich leise zu. „Aber ich habe Angst.“

„Angst wovor?“ Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

„Davor, dass es nicht real ist. Dass ich mir etwas einbilde. Oder dass ich dich verlieren könnte.“

Sie nimmt meine Hand. „Vielleicht sollten wir es einfach wagen. Ohne zu wissen, was kommt.“

Während wir auf dem Gipfel des Hügels sitzen und die funkelnden Lichter der Stadt unter uns betrachten, legt Elena ihren Kopf auf meine Schulter. „Hier oben fühlt sich alles möglich an“, flüstert sie. Ich drehe mich zu ihr und sehe das Leuchten in ihren Augen. Ohne weiter nachzudenken, küsse ich sie sanft. Es ist ein Moment der Vollkommenheit, in dem die Welt stillzustehen scheint.

Ein Moment voller Freude eröffnet sich in mir. Die warme Brise trug den Duft von Salz und Jasmin, während die untergehende Sonne den Himmel in ein spektakuläres Farbenspiel aus Gold und Purpur tauchte. Elena und ich saßen auf den Felsen nahe dem Leuchtturm, die Beine baumelnd über dem glitzernden Meer.

„Ich liebe es hier oben“, sagte sie lächelnd und ließ einen flachen Stein über die Wasseroberfläche hüpfen. „Es fühlt sich an, als könnten wir die ganze Welt überblicken.“

„Ja“, stimmte ich zu, mein Blick jedoch mehr auf ihr Profil gerichtet als auf die Aussicht. „Es ist, als wäre die Zeit hier bedeutungslos.“

Sie drehte sich zu mir um, ihre Augen funkelten im letzten Licht des Tages. „Mit dir vergeht sie jedenfalls wie im Flug.“

Ein angenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus, erfüllt von unausgesprochenen Worten und einem leisen Knistern in der Luft. Ich spürte den Drang, ihr zu sagen, was ich fühlte, doch bevor ich den Mut fassen konnte, vibrierte mein Handy in meiner Tasche.

„Entschuldige mich kurz“, murmele ich und ziehe das Telefon hervor. Es ist meine Schwester Anna. Ein unerwarteter Anruf zu dieser Stunde lässt ein ungutes Gefühl in mir aufsteigen.

„Hallo, Anna?“, antworte ich und entferne mich ein Stück von Elena, um ein paar Schritte zu gehen.

Ihre Stimme klingt gebrochen, durchzogen von einem Zittern, das mir sofort eine Gänsehaut beschert. „Vincent… es ist Papa. Er hatte einen schweren Schlaganfall.“

Mein Herz setzt einen Schlag aus, und eine eisige Kälte kriecht meine Wirbelsäule hinauf. „Was?“, flüstere ich, unfähig, die Worte zu begreifen. „Wie… wie ist sein Zustand?“

„Es sieht nicht gut aus“, antwortet sie stockend. „Du musst so schnell wie möglich kommen.“

Mein Atem stockte. „Was? Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht. Sie haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Es sieht nicht gut aus. Du musst kommen, so schnell du kannst.“

Die Welt um mich herum verschwamm. Das Rauschen des Meeres wurde zu einem fernen Murmeln, und mein Herz schlug heftig gegen meine Brust. „Ich… ich komme sofort“, stammelte ich.

Als ich auflegte, fühlte ich mich wie betäubt. Elena stand nun vor mir, Sorge zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Vincent, was ist los?“

„Mein Vater… er hatte einen Unfall. Ich muss zurück nach Deutschland“, sagte ich mechanisch, meine Gedanken rasten.

„Oh nein“, flüsterte sie und legte eine Hand auf meinen Arm. „Es tut mir so leid. Lass mich dir helfen.“

Zurück in meiner Wohnung half sie mir, hastig ein paar Dinge in einen Koffer zu werfen. Die sonst so vertrauten Räume wirkten plötzlich fremd und unwirklich. Meine Hände zitterten, während ich versuchte, mich zu konzentrieren.

„Ich habe einen Flug für dich gebucht. Er geht in drei Stunden“, sagte Elena und reichte mir das ausgedruckte Ticket. „Ich fahre dich zum Flughafen.“

„Du musst das nicht tun“, erwiderte ich, dankbar für ihre Unterstützung, aber auch überwältigt von der Situation.

„Ich will aber“, entgegnete sie bestimmt. „Du solltest jetzt nicht allein sein.“

Die Fahrt zum Flughafen verlief in Schweigen. Die Lichter der Stadt zogen wie verschwommene Linien an uns vorbei. Ich starrte aus dem Fenster, versuchte, meine Gedanken zu ordnen, doch die Angst um meinen Vater ließ keinen klaren Gedanken zu.

Am Terminal angekommen, blieb uns nur noch wenig Zeit. Elena stellte meinen Koffer ab und wandte sich zu mir um. „Bitte melde dich, sobald du kannst“, sagte sie, ihre Augen glänzten feucht im Neonlicht.

„Das werde ich“, versprach ich, obwohl ich nicht mehr sicher war.

Ein Moment der Unsicherheit hing zwischen uns. Ich wollte ihr so viel sagen, doch die Worte schienen nicht auszureichen. Schließlich zog ich sie in eine feste Umarmung. „Danke für alles“, flüsterte ich.

„Pass auf dich auf“, antwortete sie leise und löste sich langsam von mir.

Als ich mich zum Gehen wandte, hielt sie meine Hand einen Moment länger fest. „Vincent…“, begann sie, doch ich schüttelte leicht den Kopf.

„Wir reden, wenn ich zurück bin“, sagte ich, mehr zu meiner eigenen Beruhigung als zu ihrer.

Sie nickte, und ich konnte den Schmerz in ihren Augen sehen. Ohne einen weiteren Blick drehte ich mich um und ging durch die Sicherheitskontrolle.

Im Flugzeug saß ich am Fenster, das Gesicht gegen die kühle Scheibe gelehnt. Unter mir breiteten sich die funkelnden Lichter Spaniens aus, doch ich fühlte nichts als Leere. Die Realität der Situation begann sich langsam in mein Bewusstsein zu drängen. Die Möglichkeit, meinen Vater zu verlieren, die Ungewissheit über die Zukunft, und die unausgesprochenen Gefühle für Elena, die nun wie eine schwere Last auf meinem Herzen lagen.

Zurück in Böblingen fühle ich mich, als hätte ich einen Teil von mir zurückgelassen. Die nächsten Tage verbringe ich im Krankenhaus an der Seite meines Vaters. Die vertrauten Straßen, die alten Gewohnheiten – alles fühlt sich fremd an.

In den stillen Stunden der Nacht liege ich wach und denke an Elena. Ihre Lachen, ihre Art, die Welt zu sehen, haben etwas in mir geweckt, das ich längst verloren glaubte. Doch mit diesen Gefühlen kommen auch Zweifel. Verdiene ich dieses Glück? Was, wenn ich sie enttäusche?

Eines Nachts sitze ich wieder auf der Bank am Schlossberg, genau wie damals. Die Lichter der Stadt glitzern, aber ich empfinde keine Freude daran. Ich denke an Elena, an das, was hätte sein können. Habe ich meine Chance vertan?

Mein Vater starb noch in der selben Woche, und ich stehe vor der Entscheidung: Bleibe ich hier oder kehre ich nach Alicante zurück? Die Verantwortung gegenüber meiner Familie zieht mich in die eine Richtung, mein Herz in die andere.

Nach langem Zögern wähle ich Elenas Nummer. Als sie abhebt, höre ich die vertrauten Klänge der Straße im Hintergrund. „Vincent?“, ihre Stimme klingt zugleich hoffnungsvoll und besorgt. „Wie geht es dir?“

„Ich weiß nicht“, antworte ich ehrlich. „Ich bin hin- und hergerissen.“

„Ich verstehe“, sagt sie leise. „Aber du musst tun, was für dich richtig ist.“

„Was, wenn ich nicht weiß, was das ist?“

„Manchmal müssen wir Risiken eingehen“, sagt sie. „Sonst werden wir nie erfahren, wohin uns der Weg führt.“

Ich schweige, ringe mit meinen Gedanken. Schließlich sage ich: „Ich vermisse dich.“

„Ich dich auch.“

Die Verbindung wird schwächer, und ein Rauschen überlagert ihre Stimme. „Vincent, egal was du entscheidest, ich wünsche dir nur das Beste.“

Die Linie bricht ab. Ich starre auf das dunkle Display und fühle mich verloren.

Die Zukunft ist ungewiss. Ich stehe erneut an einem Scheideweg, ohne zu wissen, welchen Pfad ich wählen soll. Beide Optionen bergen Risiken und Chancen. Es könnte alles gut werden, wenn ich den Mut habe, meinem Herzen zu folgen. Oder es endet im Chaos, wenn ich die falsche Entscheidung treffe.

Doch vielleicht ist genau das der Rhythmus des Lebens: die Unsicherheit, die Möglichkeiten, das Wagnis. Vielleicht muss ich einfach den nächsten Schritt tun, ohne zu wissen, wohin er führt.

Mit einem tiefen Atemzug erhebe ich mich von der Bank. Die Nacht ist kühl, aber klar, und die Sterne leuchten hell am Himmel, als wollten sie mir den Weg weisen. Ich entscheide mich, zurückzukehren. Nach Alicante, zu Elena, zu dem Leben, das ich begonnen habe aufzubauen.

Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber ich bin bereit, es herauszufinden. Denn nur wer wagt, kann wirklich leben.

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